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Interview: Marie von Dalwigk von Schaumburg, geborene Hassenpflug (1788-1856)

Aktualisiert: 28. Okt. 2021

Als Geschichtenerzählerin ist es mir ein Leichtes, in andere Zeiten und an andere Orte zu reisen. Dies nutze ich immer wieder, um spannende Menschen zu treffen und mich mit ihnen zu unterhalten. Heute geht es 170 Jahre zurück und nach Kassel zu Marie von Dalwigk von Schaumburg, geborene Hassenpflug. Sie ist eine der bedeutendsten Märchenerzählerinnen des 19. Jahrhunderts.


Frau von Dalwigk von Schaumburg, welche Bedeutung haben Märchen für Sie?
Marie von Dalwigk von Schaumburg war als junge Frau eine der wichtigsten Lieferantinnen von Märchen für die Märchensammlung der Brüder Grimm.
Marie Hassenpflug, Städtische Museen Hanau

Marie von Dalwigk von Schaumburg: Märchen haben mich seit meiner Kindheit begleitet. Meine Mutter, die viel besser französisch als deutsch sprach, da sie hugenottische Wurzeln hatte, liebte Märchen und erzählte sie uns Kindern gerne. Susette, Jeanette, Male (= die Schwestern Johanna, genannt Jeanette und Amalie, genannt Male, U.G.) und ich machten uns einen Spaß daraus, sie uns gegenseitig in einer Mischung aus französisch und deutsch zu erzählen. Wir waren ziemlich gut darin (lacht). Als Jacob und Wilhelm (= Jacob und Wilhelm Grimm, U.G.) damit begannen, Märchen zu sammeln, baten sie uns, ihnen unsere Märchen zu erzählen oder aufzuschreiben. Wir waren erstaunt und auch etwas geschmeichelt, dass sie uns um Beiträge baten, da wir doch noch sehr jung waren.




Wie alt waren Sie und Ihre Schwestern, als Sie begannen, den Grimms Märchen zu erzählen?

MvDvS: Ich war ja die Älteste von uns und damals zwanzig Jahre alt, Jeanette war 17, und Male, unsere Nachzüglerin, war am Anfang erst 8. Bei Susette, die zwei Jahre jünger ist als ich, kam es nicht mehr dazu, dass sie erzählte, denn sie hatte ja 1809 geheiratet und war ihrem Mann nach Stettin gefolgt. Wir waren übrigens nicht die einzigen jungen Frauen, die den Grimms Märchen erzählten. Dortchen (Henriette Dorothea Wild, genannt Dortchen, die spätere Frau von Wilhelm Grimm, U.G.) war 5 Jahre jünger als ich. Sie hat ähnlich viele Märchen wie ich beigetragen, darunter beispielsweise „Frau Holle“.


Welche Märchen aus den „Kinder- und Hausmärchen“ stammen denn von Ihnen und Ihren Schwestern?

MvDvS: Puh, so ganz genau kann ich das gar nicht mehr sagen, da wir Schwestern ja alle dieselben Märchen kannten. Aber ich bin mir sicher, dass ich „Dornröschen“ erzählt habe. Das Märchen hat mich damals sehr beschäftigt und ich mochte es sehr. „Brüderchen und Schwesterchen“ habe ich im Frühjahr 1811 erzählt. Später habe ich den Grimms nochmal einen Brief dazu geschrieben, Passagen daraus haben sie dann der zweiten Auflage „beigemischt“. Jeanette hat „Rotkäppchen“ erzählt und ich die Fortsetzung davon. Da sind uns wohl auch einige französische Wörter hineingerutscht, die von den Grimms dann ins Deutsche gebracht wurden. Einige Märchen haben die Grimms auch aus verschiedenen Versionen zusammengesetzt. „Die drei Männlein im Walde“ ist beispielsweise ein Textgewebe von Dortchen (= Dorothea Wild, U.G.), Dorothea (= Dorothea Viehmann, U.G.) und Male. Sie haben das gar nicht schlecht gemacht (lacht). Insgesamt sind es wohl so um die 30 Märchen, die wir drei Schwestern beigetragen haben, davon sind ungefähr 20 von mir.


Wie kam es dazu, dass Sie die Grimms in Kassel kennenlernten?

MvDvS: Unsere Väter kannten sich ja bereits über ihre Arbeit im Rathaus aus Hanau. Wir zogen dann im Frühjahr 1799 nach Kassel, weil Vater dorthin versetzt worden war. Wilhelm und Jacob zogen nach dem Tod ihres Vaters nach Kassel, um dort aufs Gymnasium zu gehen und kehrten nach ihrem Studium in Marburg dorthin zurück. Ich glaube, es war in einem der „Kränzchen“ (eine Art literarischer Salon der Brüder Grimm, U.G.), in dem wir in Kassel auf Jacob und Wilhelm trafen. Das muss so um 1808 herum gewesen sein.


Was hatte es mit dem "Kränzchen" auf sich?

MvDvS: Das „Kränzchen“ war ein wichtiger Ort, um andere literaturinteressierte Frauen und Männer zu treffen und sich auszutauschen. Wir drei Schwestern gingen gerne dorthin. Das mochte ich immer lieber als Sticken (lacht). Es war auch ein Ort, an dem wir Märchen erzählt haben. Ich muss es Lotte (= Charlotte Amalie Grimm, genannt Lotte, Schwester von Jacob und Wilhelm Grimm, U.G.) hoch anrechnen, dass dieses Kränzchen überhaupt stattfinden konnte. Denn sie war ja erst 15 Jahre alt, als ihre Mutter 1808 starb. Und da musste sie Jacob und Wilhelm den Haushalt führen. Die Arme, sie war noch so jung und hat sich am Anfang schrecklich schwer getan damit. Ich mochte sie sehr gerne.


Sie deuten es ja bereits an: Was verbindet Sie mit der Grimm-Familie?

MvDvS: Lotte, die zunächst eine Freundin vor mir war, wurde durch die Heirat mit meinem Bruder Luis meine Schwägerin. Es gab also auch verwandtschaftliche Beziehungen. Leider ist Lotte schon im Kindbett gestorben. Ich wiederum habe im Hause der Grimms meinen späteren Mann, Johann Friedrich von Dalwigk kennengelernt. Dass wir alle vor unserer Kassler Zeit einmal in Hanau gewohnt hatten, verband uns ebenfalls. Und im Umfeld des Grimmschen Hauses haben wir auch Karoline (Karoline von Günderrode, U.G.) und Nette (Annette von Droste-Hülshoff, U. G.) kennengelernt.


Haben Märchen auch später noch eine Rolle für Sie gespielt?

MvDvS: Absolut! Ich habe ja zusammen mit meinem Mann einige Zeit am Hof von Hessen-Kassel gelebt. Friedrich war Kammerherr und ich Hofdame, also eine Gesellschafterin der Herzogin Marie Friederike von Anhalt-Bernburg. Dies war schon nach ihrer Scheidung. Sie hatte ja vor ihrer Ehe einige Heiratsbewerber abgelehnt und dann mit ihrem Mann, dem Erbprinzen von Anhalt-Bernburg, eine mehr als problematische Ehe geführt. Als ich ihre Gesellschafterin wurde, war sie in einer schlechten Verfassung. Und ich konnte sie mit dem Erzählen von Märchen oft beruhigen oder ablenken. Und natürlich habe ich auch meinem Sohn Ludwig Alexander gerne Märchen erzählt.


Gibt es eines Ihrer Märchen, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

MvDvS: Ich bin jetzt Anfang 60 und natürlich verändert sich im Laufe der Zeit der Blick auf die Märchen und es werden immer wieder andere Themen wichtig. Dass mir „Dornröschen“ eine Weile lang sehr nahe war, habe ich schon erwähnt. Dieses Warten hinter der Dornenhecke auf den Prinzen, das war uns jungen, großbürgerlichen Frauen sehr vertraut ... Heute mag ich besonders „Der goldene Schlüssel“. Es ist eine Geschichte über das Forschen und Suchen, darüber, dass einem etwas in den Schoß fällt, es aber darum geht, dieses Geschenk auch zu nutzen. Und es freut mich, dass diese Geschichte, die von mir kommt, die Kinder- und Hausmärchen seit der ersten Ausgabe abschließt. Ich hätte sie ja an den Anfang gestellt, denn sie spielt einerseits mit den Erwartungen der Zuhörerinnen und Zuhörer und schließt gleichzeitig etwas Großartiges und Kostbares auf: Das Reich der Phantasie.


U.G.: Frau von Dalwigk von Schaumburg, ich danke Ihnen für das Gespräch.


MvDvS: Ich danke Ihnen.


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