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Heimatgeschichten: Mein Nachbar, der Minnesänger

ugeuder


Ich wusste gar nicht, dass in meiner unmittelbaren Nachbarschaft einmal ein Minnesänger gelebt hat. Bis zu einem Spaziergang kürzlich bei Schmalegg in der Nähe von Ravensburg. Da bin ich nämlich im Wald auf dieses Schild gestoßen:



Ulrich von Winterstetten ist sozusagen ein Kollege. Einer, der es verstand, nicht nur frei vorzutragen, sondern seine Stoffe auch selbst zu schreiben und sie vermutlich auch musikalisch zu begleiten. Ich gebe zu, das ist schon ein paar Jährchen her, knapp 800, um genauer zu sein. Man nimmt an, dass er von 1225 bis 1280 gelebt hat. In seiner Dichtung hat er es wohl verstanden, die traditionellen Formen des Minnesangs mit einem gewissen Abstand zu sehen und an der einen oder anderen Stelle zu überzeichnen. Das macht ihn mir sympathisch, dieses Hinterfragen und über das Konventionelle Hinausgehen.


Sehr spannend ist auch die Geschichte seiner Überlieferung. Das gesamte Werk von Ulrich von Winterstetten ist in der umfangreichsten Liedersammlung des Mittelalters, der sogenannten großen Heidelberger Liederhandschrift oder Manessische Liederhandschrift verewigt. Diese Liederhandschrift hat eine abenteuerliche Besitzgeschichte, bei der im 19. Jahrhundert auch Jacob Grimm eine Rolle spielte. Er versuchte vergeblich, die Handschrift 1815 aus der königlichen Bibliothek in Paris nach Deutschland bringen zu lassen. Heinrich Heine wiederum hat sich einige Jahre später in der Bibliothek in Paris die Manuskripte holen lassen und studiert - das schien damals problemlos funktioniert zu haben.


Nicht überliefert dagegen sind die Geschichten der Schwestern von Ulrich von Winterstetten. Wir kennen nur ihre Namen: Mathilde, Guta, Elisabeth und Engelburg. In der Geschichtsschreibung werden nur die Biografien seiner sechs Brüder festgehalten. Wer aber waren die Schwestern? Lebten sie in Beginenhöfen, jenen Wohngemeinschaften von Frauen, die im 13. Jahrhundert in vielen europäischen Gesellschaften entstanden? Wie kann ich mir ihre Biografien im Spätmittelalter vorstellen?


Auch nicht überliefert ist die Geschichte der Minnesängerinnen. Gab es sie nicht? Doch! Zumindest in okzitanischen Liedersammlungen stammen 5% der Dichtungen von Frauen. Die Trobairitz, wie sie genannt wurden, tragen so klingende Namen wie Beatriz de Dia und Azalaïs de Porcairagues. In die mittelhochdeutschen Sammlungen hat es leider keine geschafft. Ob es sie gegeben hat? Warum nicht?


Vielleicht hat auch von ihnen eine in meiner Nachbarschaft gelebt und ihre Geschichte wurde nur nicht überliefert.

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