Sechs Jahre ist es inzwischen her, dass die Geschichtenerzählerin Frau Wolle, alias Karin Tscholl, ihr Buch „König Lichterloh“ herausgegeben hat. In diesen Tagen habe ich es wieder in die Hand genommen, denn es ist eine Märchen- und Geschichtensammlung mit 33 Geschichten über Krieg und Frieden, Streit und Vergebung, Zorn und Zärtlichkeit – und damit von brennender Aktualität.
In ihrem Vorwort schreibt Karin Tscholl:
„Eine einzige kriegerische Tat scheint so viel lauter zu sein und mehr Gewicht zu haben als tausend friedliche.“
Und so kreisen die Geschichten darum, wie es zu Streit, Unfrieden, ja Krieg kommt. Die Geschichten machen aber auch Mut, denn sie erzählen davon, dass es gelingen kann, Konflikte zu überwinden und zu innerem und äußeren Frieden zu finden.
Eines meiner Lieblingsmärchen heißt „Die geschwätzigen Lichter“. Es stammt aus Indien und erzählt davon, wie zerstörerisch es sein kann, wenn Menschen sich nicht mehr für die inneren Wahr- und Schönheiten ihres Gegenübers interessieren. Denn diese wollen gehört werden und sie brechen sich gewaltsam Bahn, wenn sie nicht mehr abgefragt werden.
Eine andere Geschichte erzählt davon, wie sich aus einem Tropfen Honig, der zu Boden fällt, in einer rasanten Eskalation ein Krieg zwischen zwei Ländern entwickelt. Die Geschichte ist alt, es gibt sie in verschiedenen Fassungen - Karin Tscholl erzählt sie mit einer berührenden Rahmenhandlung: Hier erzählt eine Großmutter, die vor einem armseligen Zelt in einem Flüchtlingslager sitzt, ihrer Enkelin diese Geschichte. Und dann heißt es:
„Vereint im Erzählen und Zuhören und Durchwandern der Geschichte haben sie einen Zauber miteinander geteilt und darin ein Stück Heimat gefunden.“
Geschichten zu teilen beheimatet und befriedet – vor allem, wenn sie so erzählt sind, wie hier: Denn diese Geschichten atmen und sind lebendig. Wenn man sie liest, so fangen sie innerlich an zu klingen und man hört ihnen an, dass sie aus der mündlichen Tradition des Geschichtenerzählens stammen. Dass sie unzählige Male durch Karin Tscholl hindurchgegangen sind und so zu ihrem ganz eigenen Klang, ihrem feinen Witz und ihrer sanften Weisheit gefunden haben.
Und weil Karin Tscholl mündliche Erzählerin ist, gibt sie als Quelle ihrer Geschichten nicht – oder nur selten – Bücher an, sondern die Menschen, von denen sie die Geschichten gehört hat. Auch das ist berührend zu lesen und es zeugt von einem tiefen Respekt der Mündlichkeit gegenüber, aber auch vor den Menschen, die wie sie selbst Geschichten in sich aufnehmen, hüten und weitertragen.
Illustriert wurde das Buch von Almuth Mota. Sie hat jeder Geschichte einen eigenen, illustrierten Rahmen gegeben, der die Geschichte ergänzt und verortet. Es erinnert an mittelalterliche Buchmalerei, aber wie Karin Tscholl im Erzählen, so hat Almuth Mota im Illustrieren ihre ganz eigene Weise gefunden, Tradition nicht als Anbetung der Asche, sondern als Weitergeben der Flamme zu verstehen.
Karin Tscholl wünscht sich, dass die Geschichten jene Menschen ermutigen und inspirieren, die für den Frieden brennen. Es tut wohl, sie zu lesen, zeigen sie doch, dass die Erfahrungen, die wir aktuell machen, kollektive Erfahrungen der Menschen sind und waren. Und es zeigt, dass sich die Geschichtenerzählerinnen und -erzähler schon immer an ihnen abgearbeitet und nach Antworten gesucht haben. Sehr berührt hat mich in einer westafrikanischen Geschichte die Frage eines Jägers an einen blinden Mann:
"Warum gibt es so viel Liebe, Frieden und Freude in der Welt, so viele Wunder und Wunderbares?"
Der Blinde antwortet dem Jäger, der in der Geschichte eine große Entwicklung durchlaufen hat:
"Das liegt daran, dass es viele Menschen gibt, die so sind wie du. Sie lernen aus ihren Fehlern und machen sie wieder gut."
KÖNIG LICHTERLOH, erzählt von Frau Wolle, illustriert von Almuth Mota, 216 Seiten, durchgehend farbig illustriert, 2016 Tyrolia, 19,95 €, ISBN 978-3-7022-3542-0.
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